UBERBAU-LOGO

Unter Bau Über Bau

Zur Ideo-Logie von Farbe und Bild
bei Vladimir Frelih und Enrik Hüpeden

von Peter V. Brinkemper

In der elektronischen Postmoderne der tausend Kanäle ist „Farbe“ ist ein zunehmend abstrakter phantasmagorischer Gegenstand, die endlos binäre Funktion einer von tausend Einspritznadeln, die den Kosmos der Dinge und die Objekte der Kunst höchst flüchtig und fast ohne Rausch miteinander verbindet und dabei auch wieder radikal voneinander trennt. Farbe mag ein physisches, chemisches Substrat sein. Oder ein massiver Duft oder ein Hauch der Dinge oder eine atmosphärische Erscheinung. Sie kann ein pharmazeutisches Heilmittel sein. Oder im Gegenzug ein abstraktes Zeichen oder auch ein fotografisch-filmisches Destillat oder noch weiter verflüchtigt eine elektronisch-digitale Frequenz. Farbe ist mehr als nur materielle Schicht, mehr als nur der Saft in den Arterien und Venen der Malerei, mehr als nur der grafische Lack auf hochpoliertem Alltag. Farbe ist ein Ritual für die Spektralisierung und Differenzierung der Medien, eine Grenzmarkierung für Flächen und Nachbar-Areale, ein Anzeiger für den energetischen Zustandsmodus bestimmter Teilwelten, eine Bildmetapher für Hüllen, Schichten und Organe, ein entropisches Konstruktionsprinzip für ein wüstenhaftes Universum absoluter Gleichverteilung neutralisierter Pigmente, ein astrophysikalischer Hintergrundteppich für die Suche nach den Webfehlern unserer Welt, die unterhaltsame Folie eines scheinbar immer weiter unterteilbaren Kontinuums, des „absoluten“ Spektrums, in dessen optischen Aussetzern, den Spektrallinien, sich die Produktion postatomarer schwerer planetarischer Materie andeutet, mit der die Verdunkelung der solaren Welt durch die Landschaft der natürlichen und industriellen Dinge beginnt. Unter gewissen theoretischen und technisch-medialen Bedingungen besteht die digital erfassbare Welt der Farben aus 16.777.215 „Tönen“: Das Kontinuum der Farben ist also in Wahrheit ein dynamisches Diskretum, ein Konglomerat aus Präsenz und Mangel, ein Netzwerk aus An- und Abwesenheit, eine Bricollage aus temporärem Zugegensein und massiver Verflüchtigung, die Fluchtlinie aus Balance und Ungleichgewicht. Dies hat Folgen für den aktuellen Begriff der bildenden Kunst. Das elektronische und das digitale Bild befinden sich jenseits der Ontologie von Nähe und Ferne, Gegenwart und Vergangenheit, Stillstand und Dynamik, Übersichtlichkeit und Unüberschaubarkeit. Die Parameter dieses Bildes sind der Zustand des Gewordenseins in der Präsenz der Aufzeichnung einer Verflüchtigung gewöhnlicher Phänomene und ihrer angeblich verbürgten Erfahrung.

Enrik Hüpeden: Die Farbe als Teil einer im Bild festgehaltenen Struktur und der verallgemeinerten Bewegung weist immer auch auf den Strom von Dingen und gleichförmigen Mustern hin, die am Betrachter beim Blick in die kinetische Wirklichkeit vorbeirasen und weit über die Grenzen möglicher Bebilderung hinausgehen. Eine Möglichkeit dieses Phänomen doch Bild werden zulassen, besteht darin, das Bild der Geschwindigkeit selbst einzufangen in einer kondensierten Überlagerung imaginärer Bewegungselemente und optisch in der Trägheit der Wahrnehmung substituierbarer und verschmelzbarer Einheiten. Der Video-Loop der Bewegung wird zum Paradigma am Überschneidungspunkt von Malerei, De-Konstruktion und Architektur. Kontrastive Rhythmen einer dynamischen Konstruktion von „unsichtbaren Schwellen“ aus Schwarz, Weiß und Lindgrün im Kampf um die Eroberung imaginärer und realer Flächen und Räume. Das Hinter- und Nacheinander von Fortsetzungen und Unterbrechungen: Nur scheinbar gleichförmige Motive, Etagen flimmern an ihren versetzten oder transformierten Rändern. Fluchtlinien, Schienen, Förder- und Laufbänder lassen die einzelnen Motive vergrößert oder verkleinert erscheinen, zerlegt und verwandelt, lässt ihre Visualität schrumpfen oder wachsen in bildübergreifenden Progressionen. Es entstehen temporäre architektonische Zwischenräume, Haltepunkte, Rahmen oder Hohlformen, die in den dynamischen Sequenzen der virtuellen Wiederholung und Variation unter einer verzerrenden Spannung stehen. Schichtungen und Entschichtungen, Jalousien und Durchlässe, Öffnungen und Sperrungen überlagern und kreuzen sich. Der Raum des Bildes miniaturisiert sich zum Knotenpunkt oder expandiert zum Gesamtraum der mit der Farbe überzogenen Skulptur: als eine Verkettung von Zeichen und Werten, die sich in ihren Wirkungen immer weiter überlagern, drehen und verschieben. Das orientierte Sehen wird durch ein Anti-System von Zeichen in chaotischer Bewegung gehalten, durch die differenzielle Dekonstruktion von Elementen, Identitäten, Proportionen und Relationen.

Vladimir Frelih: Farbe ist ein Medium der Abstraktion, Täuschung und Simulation. Besonders wenn sie den „angestammten Ort ihrer Verwendung“ verlässt. Acrylfarbe auf einem Gemälde kann die Funktion einer angedeuteten gegenständlichen Darstellung übernehmen, sie kann aber auch zur konkreten Metapher des Gemäldes werden, einen zerklüfteten organisch atmenden Körper, oder eine ausdrucksvolle Pinselhandschrift oder eine neutrale Produktionsweise beinhalten. Wenn ein ordinärer Personenkraftwagen aus einem Unfall zu einem Objekt demoliert oder durch Verschrottung deformiert ist, ist man bereits in den Raum der Kunst eingetreten. Das zerschundene und zerknüllte Blech, der verbogene Stahl und die Zersplitterung oder Verwellung des Sicherheitsglases sind ein merkwürdiger Gegenstand, irgendwo zwischen einem bildhauerischen Happening und einer Zufallsskulptur, das im Moment einer ziemlich ungünstigen Begegnung von der Faust größtmöglicher plastischer Wirkung geschaffen wurde. Vielleicht noch interessanter als der Crash zweier Autos ist die phantasmatische Karambolage eines Wagens mit dem Medium Farbe: Blech, Stahl, Glas und das Interieur aus Plüsch und Plastik geraten in eine Orgie aus Spritzpistolen-Schwarz und Acryl-Orange. Der lückenlose, aber poröse Oberflächenbezug des Vitamin-Vehikels schafft eine konsistente Illusion, die im Widerspruch zu der Form des ausgespuckten Kaugummis mit wild getöntem Butteraufstrich steht. Die letzte Berührung eines Gebrauchsgegenstandes mit einer freien künstlerischen Farbe als Metapher der Wucht und Wollust des Irrealen. Der Wagen als ewiges Überbleibsel, als ein dreidimensionales Acryl-Gemälde, zum Teil Skulptur, zum Teil Fläche, zum Teil Kulisse und zerbröselnde Installation. Die Auspressung der Orange als inszenierte Struktur eines nicht enden wollenden Unfalls. Die Kausalität unendlich verlängerter Gewalt des Dokuments. Die Idee der ausgebremsten Verschrottung. Die Aufhebung der Ereignisse und ihrer produktiven und unproduktiven Folgen. Die Versammlung eines Konglomerats aus Blech, Glas und Motor als Ampel-Denkmal. Die Auto-Erotik der Farbe unterstreicht den wilden Schmerz der Dinge, die in der Kollision sich selbst außer Form und Funktion gebracht haben. Die Farbe als Mittel der puren Malerei, die Architektur des Zusammenstoßes in einem letzten rein künstlerischen Signal zu bannen, das nicht mehr abgeschaltet werden kann.